Studien, die aus einer Meso-Perspektive den Zusammenhang von Identität, Wohlfahrtsstaatlichkeit und Nationalismus in Europa beleuchten, stehen bislang noch aus. Vor diesem Hintergrund versuchen die Herausgeber des Sammelbandes, Antworten auf eine drängende gegenwartsdiagnostische Frage zu liefern: Inwiefern gerät Wohlfahrtsstaatlichkeit im Zeitalter eines gerade auch in der Sozialpolitik massiv auf Austerität drängenden Neoliberalismus derart unter Druck, sodass sich dieser Druck im Streben nach nationaler Homogenisierung der Zuerkennung von Leistungen und zunehmenden nationalen Ressentiments entlädt? Mit Blick auf die zahlreichen west-, mittel- und osteuropäischen Fallbeispiele, die von den Autor_innen aufgegriffen werden, zeigt sich durchgängig ein Wirkmechanismus neoliberaler Gouvernementalität, der wohlfahrtsstaatliche Regime unterminiert. Demokratien beziehen ihre Legitimität aus der Ableitung aller staatlichen Macht von der Zustimmung der Bürger – wodurch diese gegenüber den staatlichen Institutionen eine besondere Rolle einnehmen, die sich etwa in der Zuerkennung unveräußerlicher Grundrechte auszeichnet.
Werden die Bürger im Zuge neoliberaler Ökonomisierung zunehmend als Kostenfaktoren begriffen, dann entsteht die Tendenz, Sozialleistungen verstärkt zu reglementieren, um Ausgaben zu reduzieren. Erreicht werden kann dies etwa durch die gezielte Einschränkung des Kreises der Bezugsberechtigten, die diesen Status etwa wegen der Staatszugehörigkeit erhalten. Migrant_innen geraten hier schnell zwischen die Fronten – einerseits, weil sie keinen (ausreichenden) Zugang zur Grundversorgung haben, andererseits, weil sie – etwa für populistische Parteien – als Sündenb.cke geeignet erscheinen, um die (vermeintliche) Überlastung der sozialen Netze zu plausibilisieren. Der demokratisch verfasste Wohlfahrtsstaat, so die beunruhigende Diagnose, gerät in Zeiten neoliberaler Hegemonie in seinen Binnenverhältnissen und auch in seinem internationalen Umfeld immer stärker unter Druck. Der Raum, den er freigibt, wird dann von nationalen Partikularismen und Fremdenfeindlichkeit eingenommen – eine beängstigende Perspektive, die die Autor_innen beeindruckend detailliert ausleuchten.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.2 | 2.262 | 4.42 | 2.23 | 2.4 | 2.61 | 2.62 | 2.63 | 2.25 | 2.263
Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Ireneusz Paweł
recenzja do pobrania: Karolewski / Andrzej Marcin Suszycki: European Welfare States – Citizenship, Nationalism and Conflict, Osnabrück: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft,
http://pw-portal.de/rezension/35943-european-welfare-states--citizenshipnationalism-and-conflict, veröffentlicht am 14.07.2013. © Portal für Politikwissenschaft | Osterstraße 124 | 20255 Hamburg | Mail: Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! JavaScript muss aktiviert werden, damit sie angezeigt werden kann.